Was ist los mit unseren Brieftauben? Sind sie wirklich alle so empfindlich geworden, dass sie nicht mehr selbst mit den Viren und Bakterien fertig werden? Gibt es die harten Tauben nicht mehr?
Ganz ehrlich: Ich kann und konnte mit dem Ausdruck „harte Tauben“ nie etwas anfangen. Für mich gibt es nur gute und schlechte Tauben sowie gesunde und kranke Tauben.
Rasante Verbreitung von Viren und Bakterien
Bei unseren Tauben hat und wird es immer Viren und Bakterien geben. Heute verbreiten sich die unliebsamen Viren und Bakterien allerdings in rasanter Geschwindigkeit quer durch Europa. Während noch vor 30 bis 40 Jahren ab und zu ein oder zwei Jungtiere mit dem Sportfreund aus der Nachbarschaft getauscht wurden, haben wir heute europaweit allein weit über 100 Jungtierrennen (One Loft Races), an denen Tausende Züchter mit Tausenden Tauben teilnehmen. Letztere werden dann nicht nur aus ganz Europa angeliefert, sondern nach dem Endflug und anschließender Versteigerung wieder über ganz Europa verstreut. Rechnet man nun noch die sonstigen Versteigerungen und Taubenverkäufe hinzu, kann man davon ausgehen, dass jährlich weit über eine Million Tauben die Schläge wechseln. Und natürlich kommen diese Tauben in der Regel nicht allein, sondern bringen auch noch die auf ihrem Heimatschlag vorhandenen Bakterien (beispielsweise E.Coli) und Viren (beispielsweise Herpes) mit. Wenn man dann noch weiß, dass wir heute Hunderte verschiedene (Unter-)Serotypen bei E.Coli-Keimen kennen, erübrigt sich damit auch die häufig gestellte Frage: „Warum findet man nichts gegen die Jungtierkrankheit?“
Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich in diesem Zusammenhang von angeblicher Forschung lese und wie viele Fragebögen dazu in den letzten Jahren ausgewertet worden sind. In meinen Augen ist das alles Zeit- sowie Geldverschwendung, die in der Unwissenheit verschiedener Brieftaubenverbände ihre Ursache hat oder nur eine Beruhigungspille für die Züchter sein soll. Und ich weiß, wovon ich hier schreibe, denn ich habe selbst zwei Jahre in einem Labor gearbeitet. Wissenschaftliche Forschung sieht anders aus.
Für mich ist Fakt, dass wir mit der Jungtierkrankheit und ihren verschieden Formen weiterleben müssen, uns darauf aber wohl mit verschiedenen Methoden besser einstellen können.
Viele Wege führen nach Rom
So versuchen es einige Züchter mit der Naturmethode und propagieren Knoblauch, Oregano oder diverse Kräutersuppen. Andere favorisieren eine medizinische Vorgehensweise und wieder andere lassen Luftballons durch den Jungtierschlag rollen oder besprühen dessen Wände mit Mist (EMS).
Ich empfehle eine kombinierte Vorgehensweise, und zwar die vorbeugende Naturmethode in Verbindung mit einer medizinischen Grundversorgung sowie Impfungen, wie die gegen Paramyxo-Herpes und die gegen E.Coli zur Stabilisierung des Immunsystems. Darüber hinaus rate ich zu einem frühen Anpaaren im Zuchtschlag, denn ältere Jungtauben verfügen über ein besseres Immunsystem.
Zurück zum Titel
Aber zurück zum eigentlichen Thema dieses Beitrags: „Herpes oder Jungtierkrankheit?“
In den letzten Jahren haben wir es zusätzlich massiv mit Herpesviren bei Jungtauben zu tun, die im herkömmlichen Sinne gar nicht unter den Begriff Jungtierkrankheit fallen, denn bei der Jungtierkrankheit im klassischen Sinne stoßen wir immer auf E.Coli Bakterien. Da Taubenzüchter aber immer schon zur Vereinfachung neigten, bekam irgendwann jede Unpässlichkeit der Jungen vor und in der Jungtiersaison den Namen „Jungtierkrankheit“. Und dieser wurde irgendwann zum Synonym für verschiedene bei den Jungen auftretende Krankheiten.
Herpesviren
Herpesviren (Columbid Herpesvirus 1 / CoHV-1) hat es schon immer bei Tauben gegeben und vermutlich sind heute 60 bis 70 % der Tauben damit infiziert, wobei die steigenden Käufe und Verkäufe von Brieftauben diese Prozentangaben zukünftig wohl noch erhöhen.
Wird eine Taube mit Herpes infiziert, bedeutet das aber nicht auch, dass sie erkrankt. Die Tiere leben damit. So gab es bei Alttauben bisher auch selten Probleme mit Herpes. Bei den Jungtauben verhält sich das aber seit einigen Jahren ganz anders. Gelbliche Beläge im Schnabel, langgezogen wie ein Kaugummi, meist in den Seitenbacken und teilweise auch im hinteren Schlund, sind unfehlbare sichtbare Kennzeichen eines Herpesbefalls. Oft werden diese gelblichen Beläge allerdings mit Trichomonaden oder Pocken verwechselt.
Wenn Jungtauben mit solchen gelblichen Belägen nach ein paar Tagen auch noch zu röcheln (sie atmen schwer bei jeder Bewegung) beginnen und apathisch auf dem Boden sitzen, müsste eigentlich schon jedem klar sein, dass es sich hierbei nicht um eine sogenannte „Jungtaubenkrankheit“ handelt. Nach weiteren Tagen erleiden diese Jungtauben dann einen qualvollen Erstickungstod, da der Herpesvirus die Lunge befallen hat. In dieser Phase, wenn der gelbliche Belag im Schnabel der Taube sichtbar wird, kann übrigens kein Antibiotikum mehr helfen.
Manchmal verenden dann nur einzelne Tiere des Bestandes, manchmal aber auch 20, 30 oder 40. Helfen kann eigentlich nur ein Paramyxo-Herpes-Impfstoff, der aber leider in Deutschland keine Zulassung hat und damit den deutschen Züchtern nicht zur Verfügung steht.
Das massive Sterben bei Problembeständen mit Herpes hört in der Regel eine Woche nach einer Paramyxo-Herpes-Impfung sofort auf. Die Praxis hat gezeigt, dass dabei eine Boosterung (nochmalige Impfung) nicht erforderlich ist, auch wenn sie von den Impfstoff-Produzenten empfohlen wird.
Kleine Zusatzbemerkung zu Impfstoffen
In England kann sich jeder Züchter seinen Paramyxo-Impfstoff selber kaufen, beispielsweise auf den Messen, und dann auch selbst impfen.
In den Niederlanden darf ein Tierarzt im Notfall den Impfstoff aus dem Ausland importieren (Kaskadesystem), wenn es diesen nicht im eigenen Land gibt.
In Deutschland ticken die Uhren leider etwas anders.
„Herpes-Augen“
In 2017 kamen aus Deutschland vermehrt Meldungen, dass viele, viele Jungtauben auch die typischen Herpes-Augen hatten. Dabei sind die Augenränder verdickt und auch oft hängt das untere Lid etwas. Die Augen sehen dann fast aus, als ob die Taube schielen würde. Dabei sind die typischen Herpes-Augen fast immer „trocken“, ganz im Gegensatz zu den „nassen“ Ornithose-Augen. Manchmal sind die Augen auch leicht gelblich und haben etwas Borstenbildung.
Jungtauben mit Herpes-Augen meiden das Sonnenlicht und blinzeln, wenn sie von Sonnenstrahlen getroffen werden. Einige schließen die Augen dann auch ganz. Das Belichten von Jungtauben ist zu diesem Zeitpunkt unangebracht. Zeigen Jungtauben diese Symptome, kommt es auf Trainings- sowie Preisflügen zu Verlusten. Todesfälle kommen bei den Tauben mit Herpes-Augen allerdings nicht vor, ganz im Gegensatz zu den Jungtauben mit den gelblichen Herpes-Belägen im Schnabel.
Gegen das Herpes-Auge hilft der Paramyxo-Herpes-Impfstoff übrigens nicht, sondern eher spezielle Augentropfen und eine Injektion mit „ORNI 1 ONE“. Alternativ kann man die Jungtauben auch durchseuchen lassen, aber das kann sich über Wochen hinziehen. Das, was in 2017 verstärkt mit Herpes-Augen in Deutschland auftrat, beobachte ich in Belgien und den Niederlanden schon seit ein paar Jahren verstärkt. Ob bei Herpes-Augen eventuell eine Boosterung mit Paramyxo-Herpes-Impfstoff hilft, kann ich zurzeit nicht bewerten.
Häufige Frage
Die häufig gestellte Frage, ob die Paramyxo-Herpes-Impfung zugleich auch eine vollwertige Paramyxo-Impfung ist, ist eindeutig zu bejahen. Selbstverständlich ist sie es!
Resümee
Ich hoffe, Ihnen hiermit etwas Klarheit bezüglich der Begriffe Jungtierkrankheit und Herpes gegeben zu haben. Wichtig ist einfach, dass die Züchter erkennen, welche der verschiedenen Formen der sogenannten Jungtierkrankheit ihre Jungtauben haben. Nur dann können wir viele Jungtierverluste vermeiden.
Vincent Schroeder
Fachtierarzt für Brieftauben